Beitrag von Anarchist Black Cross Berlin
COVID-19 und die Schatten unserer Gesellschaft
Seit Wochen kommt das gesellschaftliche Leben immer mehr zum erliegen. Die Straßen leeren sich, Läden und Restaurants bleiben geschlossen, die derzeitige Situation spitzt sich zu und auch die Ängste vor einer Infektion sind vieler Orts spürbar. Wir haben begonnen ein Auge aufeinander zu haben und uns aus Respekt und Rücksichtnahme vorsichtig voneinander zu distanzieren.
Dabei ist klar, dass einige Gruppen mehr unter der aktuellen Situation leiden. Sei es, weil sie aufgrund ihres Alters oder von Vorerkrankungen ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, oder weil sie aufgrund von wohnungslosigkeit oder vermehrtem Rassismus Anfeindungen ausgesetzt sind.
Dieser Text möchte einen Augenmerk auf Menschen legen, die dieser Tage noch mehr als sonst totgeschwiegen und ohne jedes Menschenrecht misshandelt und/oder eingesperrt werden. Es geht nicht um die Alten, welche in ihren Wohnheimen isoliert werden, noch um die Kranken die in Krankenhäusern in Quarantäne gesetzt werden. All diese Menschen werden, möglichst fürsorglich behandelt, versorgt und getestet sobald die ersten stichhaltigen Indizien auf eine Infektion mit dem Virus COVID-19 vorliegen.
Aber wer fehlt denn noch? Welche Menschen sind hier nicht mit bedacht?
Es sind die Schatten unserer Gesellschaft. Obdachlose, Gefängnisinsass*innen und geflüchtete Menschen, die nun eingesperrt und komplett ignoriert werden. Für sie und Andere bringen diese Wochen eine heftige Verschlimmerung ihrer Situation. Berichtet wird dar ü ber kaum. In diesem Text haben wir Informationen über die aktuelle Lage von Menschen gesammelt, die zur Zeit in deutschen Gefängnissen sitzen. Mehr noch als sonst, sind sie in diesen Zeit darauf angewiesen, dass wir sie nicht vergessen.
Die aktuelle Situation in deutschen Gefängnissen
Die ersten Gefängnisse in Deutschland, wie etwa die JVA Freiburg haben bereits anfang März erste Einschränkungen verhängt, Besuchszeiten wurden auf ein Minimalstes gekürzt.
Zu diesem Zeitpunkt waren in Italien bereits in zahlreichen Gefängnissen Aufstände ausgebrochen, mit denen Gefangene gegen Besuchsverbote und ihre riskante Unterbringung protestierten. Kurzzeitig wurde auch in hiesigen Medien über die Meutereien in Italien berichtet. Doch während sich die Lage dort verschlimmert und die Zahl der Toten steigt, verschwindet das Schicksal der Gefangenen wieder aus der Berichterstattung. Inzwischen sind die ersten Gefangenen mit COVID-19 infiziert, was den Schluß zulässt, dass die Krankheit durch die Wächterinnen und das restliche Personal eingeführt wurde. Gefangene sind ungleich härter vom aktuellen Ausnahmezustand betroffen. Das hat mit zahlreichen Missständen in den Gefängnissen und im Justizsystem zu tun. Seit Jahrzehnten werden diese von (ehemals) Gefangenen und ihren Unterstützerinnen benannt und bekämpft.
Missstände in deutschen Gefängnissen
Überbelegung und Ansteckungsgefahr
Selbst leitende Angestellte im Strafvollzugsystem bemängeln, dass Gefängnisse in Deutschland zu voll sind. Ab 85-90% Belegung gelten diese als voll, da es die Möglichkeit geben muss Gefangene nach Bedarf zu verlegen. Diese Marke wird in vielen Gefängnissen, vor allem im geschlossenen Vollzug, regelmäßig überschritten, wie aus Datenerhebungen des statistischen Bundesamtes hervorgeht. In Baden-Württemberg gab es vergangenes Jahr sogar mehr Häftlinge als Haftplätze. Das Leben vieler Menschen auf engstem Raum bringt es mit sich, dass die Ansteckungsgefahr bei Krankheiten sehr hoch ist. Trotzdem erfolgen kaum Maßnahmen, um das Risiko einer Verbreitung zu verringern. Wie zum Beispiel aus dem Bericht eines Gefangenen in der JVA Plötzensee, Berlin hervorgeht: „Heute haben sich hier drei Insassen bei der Arztgeschäftsstelle mit Corona Symptomen (Fieber, Husten, Atemprobleme) gemeldet und wurden ohne einem Arzt vorzustellen, zurück in ihre Hafträume geschickt, mit der Bitte, sich dort aufzuhalten und keine Panik unter anderen Insassen aufkommen zulassen! Ein Corona Test erfolgte nicht.“ In der Anstalt stehen anscheinend nicht einmal Atemgeräte bereit, die bei schweren Verläufen zur Behandlung einer COVID-19 Infektion nötig wären. Gefangene können sich auch nicht selbst gegen Ansteckungen schützen, indem sie einander aus dem Weg gehen oder sich mit Handschuhen und Masken schützen. Diese stehen ihnen, und oft selbst den Wärter*innen nicht zu Verfügung.
Vorerkrankungen und gesundheitsschädliche Lebensbedingungen
Neben der Ansteckungsgefahr ist auch das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes erhöht, weil viele Gefangene ohnehin geschwächte Immunsysteme haben. Eine ungesunde Ernährung, ständiger Bewegungsmangel und enormer psychischer Druck beeinträchtig en ihre Gesundheit beträchtlich. Ärztinnen, Menschenrechtlerinnen, (ehemals) Gefangene und Unterstützerinnen weisen beständig darauf hin, dass die Lebensbedingungen und die gesundheitliche Versorgung in den Gefängnissen absolut unzureichend sind. Durch die Art, wie der Strafvollzug und die medizinische Versorgung der Insassinnen organisiert ist, wird Gefangenen die Möglichkeit genommen sich gut um die Bedürfnisse ihrer Körper zu kümmern. Durch die Art, wie der Strafvollzug und die medizinische Versorgung der Insass*innen organisiert ist, wird Gefangenen die Möglichkeit genommen sich gut um die Bedürfnisse ihrer Körper zu kümmern.
Isolation und Fehlen von Informationen
Aus ihren Umfeldern herausgerissen und von ihren Familien und Freundinnen getrennt, leben Gefängnisinsassinnen in weitgehender Isolation. Diese wird durch die Gefangenschaft geschaffen, durch Besuchsbeschränkungen und überhöhte Briefmarken- und Telefonkosten wird sie noch verschlimmert. Dabei sind gerade Kontakte nach Außen für Gefangene und ihre psychische Gesundheit von größter Bedeutung. Wenn aufgrund der Ausweitung des 19-Virus nun Besuche massiv eingeschränkt bzw. ganz verboten werden, stellt dies eine Zuspitzung ohnehin kaum erträglicher Zustände dar. Der eingeschr ä nkte Kontakt nach Außen bedeutet auch, dass Gefangene Schwierigkeiten haben an Informationen, wie zum Beispiel aktuelle Nachrichten, zu kommen. In den letzten Wochen war es eine zentrale Forderung von Gefangenen und ihren Unterstützer*innen gesicherte und tagesaktuelle Informationen über den Virus und die derzeitige Lage zu bekommen. Auch ohne Ausnahmezustand und ein lebensbedrohendes Virus sind Informationen über gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen für Gefangene wichtig. Schließlich wirken sich diese durch Veränderungen in Gesetzen und Richtlinien direkt auf ihr Leben aus. Ganz zu schweigen davon, dass sich die meisten Gefangenen nach ihren Haftstrafen wieder in dieser Gesellschaft zurechtfinden sollen.
Freilassungen und Fürsorge statt Vergessen
Der Umgang mit Gefangen in den letzten Wochen durch Politik, Gefängnisverwaltung und Wärter*innen schockiert durch Rücksichtslosigkeit, Ignoranz und Verachtung für menschliches Leben. Überraschen tut er nicht. Ebenso wenig, wie das Ausbleiben von Berichterstattung und gesellschaftlicher Anteilnahme. Dass Gefangene in dieser Gesellschaft als Menschen zweiter Klasse gelten deren grundlegendste Bedürfnisse ignoriert werden können, wird allen deutlich, die sich – freiwillig oder nicht – mit der Realität eines Leben im Gefängnis auseinandersetzen.
In vielen Bundesländern werden mitlerweile Haftantritte für kürzere Gefängsnisstrafen ausgesetzt, und mancherorts werden sogar Menschen frühzeitig entlassen, die Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, also kleinere Strafen, die aufgrund von Geldmangel nicht abbezahlt werden konnten und deswegen in Freiheitsentzug umgewandelt wurden. Wir begrüßen die Entlassungen von Gefangenen und fordern, dass mehr Menschen freikommen. Jetzt erst recht. Das Einsperren von Menschen, von denen die meisten von Armut, Rassismus, häuslicher Gewalt und/oder Suchtkrankheiten betroffen sind, war noch nie eine Lösung für persönliche oder soziale Probleme. Die allermeisten Gefangenen, sitzen aufgrund von Eigentums- oder Drogendelikten. Das bedeutet, dass sie für Taten bestraft werden, die eng mit ihren prekären Lebenslagen zusammenhängen. Es kann nicht sein, dass eine Gesellschaft keinen besseren Umgang findet, als diese Menschen an einem Ort zu isolieren, an dem sie mehr Gewalt erfahren, an dem sie in der Gestaltung ihres Lebens und in der Suche nach Lösungen für persönlichen Probleme stark eingeschränkt werden, und der sie krank macht.
Es ist erschreckend, zu sehen, dass selbst in diesen Zeiten, kaum Interesse an der Situation von Gefangenen gezeigt wird. Wer die Menschen sind, die im Gefängnis sitzen, welche Umstände zu ihren Verurteilungen geführt haben und wie es ihnen ergeht, dass möchte niemand wissen. Zu tief sitzt wohl der Glauben daran, dass Gefangene vom Staat schon angemessen behandelt werden, dass sie vielleicht weniger Wert sind als man selbst, dass sie es halt verdient haben. Verdient krank zu werden und, aufgrund der Umstände unter denen sie leben müssen, krank zu bleiben. Verdient an physischen und psychischen Krankheiten zu sterben, die hätten behandelt werden können. Verdient dem COVID-19 Virus schutzlos ausgeliefert zu werden, an ihm vielleicht in hohen Zahlen zu sterben. Verdient, dass ihr Kampf für einen sorgsamen Umgang mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben mit mehr Isolation und Gewalt beantwortet wird.
Seitdem die ersten Infektionen in Deutschland bekannt wurden, wurden wir dazu aufgerufen uns solidarisch und rücksichtsvoll zu verhalten. Wir sollen einen verantwortungsvollen Umgang mit der Bedrohung unserer Gesundheit und der Leben von Menschen aus Risikogruppen finden. Das wollen wir tun, und zwar unter Einbezug aller Menschen, auch jener, die zu Zeit in Gefängnissen untergebracht sind. Durch das Ausbleiben fürsorglicher Maßnahmen werden ihre Leben zur Zeit mutwillig aufs Spiel gesetzt. Wir rufen dazu auf, diesem Zustand endlich Aufmerksamkeit zu schenken und fordern, dass nötige Gesundheitsmaßnahmen und Freilassungen durchgesetzt werden. Bevor sich das Virus durch alle Gefängnisse zieht, bevor Menschen sterben müssen. Bevor es zu spät ist.